Abschied und Ahnung
Gottesdienst würdigt Körperspender
Göttingen (kpg) – Auffallend viele jungen Menschen sind an diesem Mittag in die Universitätskirche St. Nikolai gekommen. Im Altarraum vorne stehen 20 Urnen, in den bis auf den letzten Platz besetzten Kirchenbänken Studierende und Lehrende der medizinischen Fakultät, Kinder und Enkel der Toten. Die Menschen, deren sterbliche Überreste am Nachmittag auf einem Gräberfeld auf dem Weender Friedhof beigesetzt werden, sind nicht erst vor kurzem gestorben, manche sind bereits über zwei Jahre tot: Sie haben sich nach ihrem Ableben als Körperspender für die Anatomie zur Verfügung gestellt, damit angehende Mediziner den Aufbau des menschlichen Körpers kennen lernen.
Seit 10 Jahren gibt es den ökumenischen Gottesdienst für Körperspender, den die evangelische und katholische Hochschulgemeinde gemeinsam mit dem Zentrum für Anatomie und den Medizinstudenten gestalten, nun schon, einmal in jedem Semester. Manche der Angehörigen weinen – obwohl der Tod ihres Eltern- oder Großelternteils schon Jahre zurück liegt. „Für die Angehörigen ist dieser Gottesdienst oft tatsächlich die erste Möglichkeit, sich würdevoll zu verabschieden“, sagt Hochschulpastor Carsten Mork, der in diesem Wintersemester für die Koordination des Gottesdienstes verantwortlich ist. „Es ist schwer für sie, weil es ja keine Beerdigung gab und oft auch nicht die Zeit, um Abschied zu nehmen.“ So mancher Angehöriger besuche deshalb regelmäßig – oft zum Jahrestag des Gedenkgottesdienstes – das Gräberfeld, weil er erst hier einen Ort für seine Trauer habe.
Alle Körperspender – rund 40 sind es in Göttingen jedes Jahr – haben sich diesen Schritt reiflich überlegt, sagt Professor Wolfgang Knabe vom Zentrum Anatomie der Universität Göttingen. Knabe hat oft schon Jahre vorher Kontakt zu den Spendern. „Manche haben etwas Schwieriges überstanden, andere machen das, weil ihre Kinder sich für einen medizinischen Beruf entscheiden. Alle haben sich sehr intensiv damit auseinandergesetzt, das ist ein langjähriger Prozess.“ Während die einen aus ganz altruistischen Motiven ihren Körper der Anatomie zur Verfügung stellen, gebe es andere, die diesen Schritt wählen, weil sie keine Angehörigen mehr haben und somit niemanden, der nach ihrem Tod die Grabpflege übernehmen könnte, ergänzt Carsten Mork. In Einzelfällen spielten auch finanzielle Gründe eine Rolle. Er selbst kenne zudem Personen, für die der Gottesdienst in der Nikolaikirche selbst die Initialzündung war, sich als Körperspender zur Verfügung zu stellen.
Zerstören, um heilen zu lernen
Während des Gottesdienstes entzünden Studierende eine Kerze für jeden Toten und verlesen die Namen der Verstorbenen – sofern der Verstorbene sich zu Lebzeiten damit einverstanden erklärt hat. Für die Medizinstudenten treten die Toten, an denen sie vorher gearbeitet haben, aus der Anonymität, ohne dass jedoch die Namen den Leichnamen zugeordnet werden könnten. Die Studierenden sind es auch, die den Gottesdienst durch die von ihnen ausgewählten Texte und die Musik im Wesentlichen gestalten. „Diese Form des Gottesdienstes trifft das Bedürfnis der Studenten“, weiß Professor Knabe. „Er ist eine gute Möglichkeit für sie, sich zu verabschieden und die Erlebnisse in der Anatomie zu verarbeiten.“ Denn die Studierenden hätten in mehrfacher Hinsicht einschneidende Erlebnisse gemacht, so Mork: „Einmal, weil sie ja eine Tabugrenze überschreiten müssen, indem sie in den Körper eindringen, um ihn kennen zu lernen – und damit etwas zerstören müssen, um das Heilen zu lernen.“
Die meisten Studierenden, die noch am Anfang ihrer medizinischen Ausbildung stehen, hätten zudem bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie das erste Mal am Präparierkurs in der Anatomie teilnehmen, keinerlei Erfahrungen mit Tod und Sterben gemacht. „Hier bekommen sie zum ersten Mal eine Ahnung davon, dass sie auch im späteren Berufsleben immer wieder damit konfrontiert sein werden“, weiß Knabe. Über den Gottesdienst hinaus bieten sowohl die Lehrenden der Anatomie als auch die Hochschulseelsorger eine weiter führende Begleitung an. „Wir wollen ja kein mechanisches Menschenbild, sondern den Menschen in seinem vollen Umfang erfassen.“
Für Pater Benedikt Lautenbacher, den katholischen Universitätsseelsorger, bietet der Gottesdienst auch eine Möglichkeit, essentielle Fragen nach Tod und Sterben zu stellen, auch nach dem Danach – und das über alle Konfessionsgrenzen hinweg. Denn längst nicht jeder Gottesdienstbesucher am heutigen Tag ist katholisch oder evangelisch. „Es gibt unter den Studenten die Coolen und die Sensiblen, aber wenn´s ums Ganze geht, um Tod und Leben, Hoffnung, Heil und Heilung, Trost und Vergebung – dann stellen sich die Fragen für alle Menschen gleich.“