Schwerstarbeit für die Seele

Wer aus einer psychiatrischen Klinik entlassen wird, fällt erst einmal in ein Loch. Einen Kick für die Seele bekommen ehemalige Patienten in der Malgruppe des Ancora Zentrums für Beratung und Seelsorge

 

„Ich komme so lange her, bis ich sage: Das ist es!“, sagt Stephania Rudolfi.  Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wütend starrt sie auf die farbigen Flächen, die das ganze Blatt ausfüllen. Zwei grüne Balken: Ufer. Ein gelber Balken: Strand. Ein blauer Balken: Fluss. So einfach kann es sein. Aber die 74-jährige ist nicht zufrieden.  „In der ersten Zeit hatte ich richtig Panik, hierherzukommen“, gesteht sie.  „Malen ist Schwerstarbeit.“  Warum sie trotzdem immer wieder in die Malgruppe kommt? „Jeder hier spricht mir Mut zu.“ Worauf sie selbst nie kommen würde, sagen ihr die anderen: „Sie können malen.“

Wenn es nach Wolfgang Friedl gegangen wäre, hätte Stephania Rudolfi gar nicht den Kampf mit Farbe und Pinsel aufnehmen brauchen, sondern mit Tönen und Rhythmen. Der  Seelsorger im Asklepios Fachklinikum für Psychiatrie und Psychotherapie wollte ein Angebot machen für Menschen, die aus der Klinik entlassen sind und wieder in den Alltag zurückfinden wollen. Und für alle Interessierten, die mit anderen Menschen gemeinsam neue Erfahrungen machen wollen und wissen, dass jeder Lebensweg ein bisschen schräg verlaufen kann. Ein Gospelchor war seine erste Idee. Doch dann lernte er die Kunsttherapeutin Angelika Peschel kennen und war gepackt: „Warum singen? Malen!“, dachte er sich.

Seit 2009 treffen sich rund ein Dutzend Malbegeisterte in etwa monatlichen Abständen im Ancora Zentrum für Beratung und Seelsorge in der Göttinger Innenstadt. Einige leiden an Schizophrenie, andere an Ängsten und Depressionen. Viele Teilnehmer sind auf Medikamente angewiesen, um ihren Alltag zu meistern.  In der Gruppe stellen sie fest, dass es sich lohnt, sich einer neuen Herausforderung  zu stellen. „Die Erfahrung: Ich kriege etwas hin! ist beglückend“, erklärt Friedl. Die Teilnehmenden haben schon zahllose frustrierende Erfahrungen hinter sich: Mit Behörden, bei denen Antragsteller, die nicht  ins Raster passen, gar nicht gut angekommen. Oder mit der eigenen Familie, die mit ihrer Direktheit, Gefühle auszudrücken, nicht umgehen kann. In der Gruppe erlebt jeder Wertschätzung oder, wie Angelika Peschel es nennt, „kurze, heilsame Begegnungen“. „Übervoll“, erzählt Teilnehmerin Elga Sorge, sei ihr Kopf leider oft. „Hier genieße ich es, loslassen zu können.“

Flüsse sind das Thema dieses Nachmittags. Das Leitungsteam hat Fotos als Inspirationsquellen mitgebracht, die unterschiedliche Aspekte des Themas abbilden: Flüsse als Verkehrswege, als Energiequellen oder Lebensadern. Es zeigt sich, dass fast jeder eine Erinnerung hat, in der ein Fluss eine Rolle spielt. Am Ende werden die fertigen Bilder in der Runde besprochen. Martina Müller hat einen Strom von abstrakten Formen gemalt, gespatelt und gedruckt. „Ich glaube, das Blaue bin ich“, überlegt sie. Stephania Rudolfi will mehr wissen. Aber Martina Müller lässt sie abblitzen: „Weil es so ist“, sagt sie bestimmt. „So ist das hier leider“, schaltet sich Wolfgang Friedl ein, und seine Stimme klingt versöhnlich: „Es werden nicht alle Wünsche erfüllt.“ Manche Wünsche allerdings schon.

Die Malgruppe startet nach den Sommerferien wieder. Die Termine sind jeweils dienstags, 15 – 17.30 Uhr:
13. August
17. September
1. Oktober
12. November
10. Dezember

Kostenbeitrag: 3 Euro je Nachmittag. Material steht zur Verfügung.